Ryyan Alshebl flüchtete 2015 aus Syrien nach Deutschland – seit April ist er Bürgermeister der schwäbischen Gemeinde Ostelsheim. Mit Zonya Dengi spricht er über seine Entscheidung, als junger und geflüchteter Mensch in die Kommunalpolitik zu gehen, über aktuelle Herausforderungen vor Ort und die Frage, warum in einer Demokratie alle repräsentiert werden müssen. Auftakt unserer Portraitreihe zur Vielfaltsstudie.
Zonya Dengi: Herr Alshebl, im April 2023 wurden Sie mit 29 Jahren zum Bürgermeister der schwäbischen Gemeinde Ostelsheim gewählt. Dabei sind Sie erst 2015 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Wie kam es zu dieser Blitzkarriere?
Ryyan Alshebl: Ich hatte großes Glück. Als ich mit 21 Jahren als Flüchtling nach Deutschland kam, hatte ich noch kein klares Ziel vor Augen: Ich wollte erst einmal ankommen, Deutsch lernen und eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten machen. Durch Zufall erhielt ich einen Ausbildungsplatz in der Gemeindeverwaltung von Althengstett, das ist der Nachbarort. Ich hatte Kolleginnen und Kollegen, die sich Fachthemen wie Tiefbau, Ordnung oder Finanzen widmeten, und es gab einen Bürgermeister, der sich um das große Ganze kümmerte. Mir wurde rasch klar, dass ich mir das auch vorstellen könnte. Und ich hatte das Glück, einen Mentor zu haben, der mich auf meinem Weg gefördert hat. Das war Clemens Götz, der Bürgermeister von Althengstett. Er hat mir immer wieder Mut gemacht und mich bis zum Wahlkampf unterstützt.
Sie sind im Wahlkampf von Tür zu Tür gegangen, um für sich zu werben. Was reizt Sie an der Kommunalpolitik?
Die Vielseitigkeit: man muss sich um alle Bereiche des öffentlichen Lebens kümmern. Und man muss eine Mehrheit hinter sich bringen, die einem zutraut, das Dorf voranzubringen. Dass mir das gelungen ist, motiviert mich.
Sie sind im Süden von Syrien aufgewachsen, 2015 sind Sie nach Deutschland geflüchtet. Was hat Sie dazu bewogen?
Während des Studiums konnte ich mich vom Militärdienst zurückstellen lassen, wie das hieß. Mit dem Ende meines Studiums wäre das nicht mehr möglich gewesen – und Militärdienst hieß in meinen Fall, als Soldat auf meine eigenen Mitbürger zu schießen. Das war für mich keine Option. Ich habe mich dann ziemlich schnell entschieden, das Land zu verlassen, und war innerhalb von drei Monaten raus aus Syrien.
Sie haben den riskanten Weg über das Mittelmeer gewählt und sind über viele Länder nach Deutschland gereist. War Ihnen bewusst, welches Risiko Sie eingehen?
Das war mir klar. Aber es gab keine Alternative, und so war ich gezwungen, schnell eine Entscheidung zu treffen. Am Ende fand sich eine Gruppe aus meinem sehr nahen sozialen Umfeld zusammen, und wir haben gemeinsam beschlossen, dieses Risiko einzugehen.
Warum fiel Ihre Wahl auf Deutschland?
Das hatte unterschiedliche Gründe. Mein Bruder war bereits in Deutschland, er kam als Student nach Karlsruhe. Das war natürlich ein Pluspunkt. Zweitens hielt ich Deutschland auch schon früher in vielerlei Hinsicht für ein inspirierendes Land. Als ich nach Deutschland kam, wurde ich relativ schnell nach Karlsruhe geschickt und dann immer wieder umverteilt, bin ich dann hier in den nördlichen Schwarzwald gekommen bin, nach Calw.
Was war ihr erster Eindruck von Calw?
Calw ist eine kleine, überschaubare Stadt am Rande des Waldes, die Kernstadt zählt etwa 5000 Einwohner. Die Region Calw besteht aus einer Ansammlung von Dörfern und ist sehr ländlich geprägt. Unsere Gemeinschaftsunterkunft lag auf dem Willberg, das ist ein Stadtteil von Calw. Um zum Supermarkt zu gelangen, musste man einen sehr steilen Berg hoch und runter laufen. Ich hatte ein Dach über dem Kopf und bekam am Ende jeden Monats etwas Geld, aber mir war klar: Diese Gemeinschaftsunterkunft darf nicht das Ende meiner Reise sein.
Sie haben hier sehr schnell Fuß gefasst. Hatten Sie schon in Syrien Deutsch gelernt?
Nein, ich konnte kein Wort Deutsch, als ich hier ankam. Ich bin auch erst durch die Flucht zum ersten Mal aus Syrien ausgereist. Ich wusste aber, dass ich als Syrer gute Chancen auf Anerkennung meines Asylantrags haben und über kurz oder lang eine Aufenthaltserlaubnis erhalten würde. Darum habe ich meine Zeit und Energie darin investiert, die Sprache zu lernen, um für das Leben in Deutschland bereit zu sein, wenn die Papiere geklärt sind. Mir war klar, dass man ohne Sprache nicht weit kommt.
Welche Rolle spielte Ihre Fluchterfahrung bei der Entscheidung, sich politisch zu engagieren?
Die Fluchterfahrung macht einen zwangsläufig zehn Jahre reifer. Man setzt sich mit existenziellen Fragen auseinander. Hier habe ich festgestellt, dass sich viele meiner Altersgenossen mehr für Urlaube, Klamotten, Musikfestivals oder Dorffeste als für Politik interessieren. Als ich mich dann zur Wahl gestellt habe, sagten mir auch viele ältere Freunde und Bekannte, dass sie sich nie im Leben so ein Amt antun würden. Viele hielten mich auch als zu jung für den Job. Als Dorfbürgermeister muss man sich wirklich um alles selbst kümmern. Das ist nicht so wie in größeren Städten, wo man weitgehend nur Entscheidungen treffen und repräsentative Aufgaben wahrnehmen muss. Aber ich habe meine Entscheidung gut abgewogen.
Mussten Sie Vorbehalte überwinden?
Wir haben in Ostelsheim konservative Milieus, die Angst davor haben, die eigene Heimat zu verlieren. Das ist so ein gewisses Grundgefühl, das spürt man in fast jedem Gespräch. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die an einer guten Zukunft für alle interessiert sind. Mein Anliegen ist es, diese beiden Seiten miteinander ins Gespräch zu bringen. Aber das ist keine einfache Aufgabe. Die gute Nachricht ist, dass das Thema Sozialer Zusammenhalt in Baden-Württemberg großgeschrieben wird. Das Land hilft, Aktionen in dieser Richtung zu entwickeln. Aber ich muss zugeben, dass mir das Thema Sorgen macht. Wir müssen uns schon mit der Frage auseinandersetzen, wie wir den demokratischen Kern dieser Gesellschaft wahren können.
Was ist Ihre Antwort darauf?
Darauf gibt es nicht die eine, einfache Antwort. Ich glaube aber, dass sich seit 2015 etwas geändert hat in diesem Land. Das spüre ich auch als jemand, der durch diese Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen ist. In den wohlhabenden schwäbischen Dörfern, zu denen man Ostelsheim zählen kann, gibt es einen gewissen Unmut. Die Menschen im ländlichen Raum fühlen sich nicht ernst genommen von der großen Bundespolitik. Unsere Aufgabe ist es, die Mitte der Gesellschaft mitzunehmen, und zugleich die Schwachen und Marginalisierten nicht aus den Augen zu verlieren.
Welche Rolle spielt Ihre Einwanderungsgeschichte und Ihre Fluchterfahrung für Ihre Politik?
Biografisch spielt das für mich natürlich eine große Rolle. Für die Politik, die ich hier vor Ort machen werde, vermutlich weniger. Hier stehen eher Themen wie die Energiewende, Windkraft und Photovoltaik im Vordergrund. Aber auch die Unterbringung von Geflüchteten ist ein Dauerthema. Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, dann haben meine Erfahrungen natürlich meine Ansichten zu diesem Thema geprägt und werden wohl auch mein politisches Handeln beeinflussen.
Inwiefern?
Zum Beispiel hat der Landkreistag in Baden-Württemberg jetzt verlangt, eine Art Arbeitspflicht für Geflüchtete einzuführen. Das halte ich für Unsinn, und das habe ich auch schon in Interviews gesagt, weil es erstens rein rechtlich nicht geht und zweitens das falsche Instrument wäre. Ich weiß aus eigener Erfahrung, welche Integrationsangebote es braucht, und was weniger hilfreich ist.
Wie vielfältig ist ein Dorf wie Ostelsheim heute?
Mittlerweile ist jedes Dorf in Deutschland vielfältig. Ostelsheim ist eine Gemeinde mit 2600 Einwohnern. Dadurch, dass wir im Einzugsgebiet von Firmen wie Daimler-Benz, Porsche und Bosch liegen, haben wir einen relativ hohen Anteil an Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationsgeschichte. Und durch die Fluchtbewegungen in den Neunzigerjahren und zuletzt seit 2015 leben hier auch viele Menschen, die nicht hier geboren wurden – so wie ich.
Gerade in der Kommunalpolitik haben es Neuankömmlinge und marginalisiert Gruppen aber eher schwer, oder? Wie bekommt man mehr Menschen mit Migrationsgeschichte dazu, sich in kommunalen Gremien zu engagieren?
Das ist eine gute Frage. Althengstett ist eine Gemeinde mit 8000 Einwohnern, der Ort Ostelsheim ist deutlich kleiner. Die meisten Menschen, die sich an diesen Orten etwa im Gemeinderat engagieren, sind alteingesessen und leben meistens schon seit Generationen hier. Das spiegelt aber die heutige Vielfalt der Gesellschaft überhaupt nicht wider. Und das ist ein Problem. Denn diejenigen, die neu dazugekommen sind, fühlen sich oft nicht als Teil der Gesellschaft. Ich sehe es auch als meine Aufgabe an, das zu ändern.
Woran machen Sie das fest?
Ich möchte ein Beispiel geben: Wir haben in Ostelsheim eine sehr gute Pizzeria, keine hundert Meter vom Rathaus entfernt, der Inhaber stammt aus Süditalien. Ich habe mich ihm als Bürgermeister vorgestellt, und er war total schockiert – er wusste noch nicht einmal, dass eine Wahl stattgefunden hatte. Das hat wiederum mich schockiert. Ich halte es für eine gefährliche Entwicklung, wenn Leute, die bei uns leben, sich nicht als Teil dieser Gesellschaft begreifen. Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger, und das muss sich auch in den Gremien und Institutionen spiegeln. Eine Demokratie muss alle repräsentieren, nicht nur eine bestimmte Klientel.
Wie möchten Sie das ändern?
Wir haben bei uns immerhin sechs Gemeinderäte, die noch keine 40 Jahre alt sind. Aber das ist reiner Zufall. Ich möchte das Bewusstsein für die Bedeutung der Kommunalpolitik insgesamt schärfen. Ich habe mir vorgenommen, auf meinem Instagram-Kanal über Video-Botschaften mit den Menschen zu kommunizieren. Das ist ein Kommunikationsstil, den mittlerweile viele Kolleginnen und Kollegen praktizieren, und den ich sehr begrüße. Denn das ist eine sehr gute Möglichkeit, auch junge Menschen zu erreichen, mehr Menschen mitzunehmen und ihr Feedback einzuholen.
Warum ist es Ihnen wichtig, gerade junge Leute zu erreichen?
Unsere Generation muss eine enorme Transformation bewältigen. Wenn wir über Windräder, Stromleitungen und LNG-Terminals sprechen, dann ist die kommunale Ebene dabei viel wichtiger, als viele denken. Wir sind die Generation, die das umsetzen und bezahlen muss. Deswegen ist es wichtig, dass wir dabei mitreden und diese Zukunft mitgestalten – etwa, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir die Windkraft vor Ort fördern wollen oder nicht.
Welchen Rat geben Sie jungen Menschen, die sich kommunalpolitisch engagieren wollen?
Einfach machen. Die Zukunft gehört euch.